Fotografie ist Teil der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Nur wenn eine Fotografie über ein Ereignis existiert, glaubt man, dass dieses auch tatsächlich stattgefunden hat. Das Hochzeitsfoto beweist das gegebene Eheversprechen. Das Porträt vom debattierenden Politiker im Parlament belegt seine Aussage. Ein Foto vom ölverschmutzten Strand bezeugt das Tankerunglück und die ökologische Katastrophe.

Dabei ist jede Fotografie nur, wie der französische Philosoph Paul Virilio es betont, „die Unterbrechung eines verborgenen Bewegungskontinuums, der Stillstand einer Bilderwelt“. Nimmt man zum Beispiel eine Serie von dreizig Aufnahmen, belichtet im Mittel mit einer sechzigstel Sekunde, so ergibt sich daraus nicht mehr als mehr als eine halbe Sekunde Ausschnitt aus dem wahrgenommenen Leben.

Alles vor und nach der Fotografie ist scheinbar verschwunden. Über die Bedingungen der Aufnahme, das Entstehen des Auckenblicks, das Drumherum zum gewählten fotografischen Ausschnitt, den emotionalen Beziehungen zwischen dem Fotografen und dem fotografierten Objekt, erzählt das Foto nichts.

Und doch üben die unbewegten Bilder oft eine eigentümliche Fazination aus. Man sagt ihnen sogar nach, dass sie Geschichten erzählen können. Mit dem Hochzeitsfoto erinnert man sich vielleicht an den gemeinsamen Liebesakt. Das Porträt vom Politiker kann auch von seinen Lügen erzählen und mit dem Bild vom ölverschmutzten Strand wird man gegenbenfalls daran erinnert, dass die Preise auf dem Fischmarkt wieder gestiegen sind und das ehemals üppige Fischangebot schwindet.

Fotografien konstruieren also nicht nur den statischen Raum des Abgebildeten. Sie erzeugen auch eine Zeittiefe, die sich als Geschichte in den Gedächtnissen der Menschen realisiert, die das fotografische Bild betrachten. Und sie können so etwas wie ein diskursiver Knoten sein, weil das was sich mit dem fotografischen Text manifestiert, frei assoziert und mit eigenen Bedeutungszuweisungen verbunden werden kann.

Diese Dynamik der Fotografie veranlasste Paul Virilio zu der Aussage: „Wenn es tatsächlich eine Kunst gibt, bei der […] der Betrachter das Kunstwerk überhaupt erst erschafft, dann ist die Fotografie diese Kunst!“. Während also auf der einen Seite mit dem Fotografieren, Leben aus der Fotografie verschwindet, wird es auf der anderen Seite mit dem Lesen der Fotografie neu geschaffen. Fotografie ist somit gleichzeitig destruktiv wie konstruktiv. Sie ist Zerstörung und Schöpfung in Einem.

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